Erster Ausbildungstag
August 2000. Gestern hat mich meine Mutti nach Hannover gefahren und mit mir meine möblierte Wohnung eingeräumt. Ganze 18 Quadratmeter waren jetzt meine neue, fremde Welt.
Da stehe ich nun in grüner Latzhose vor dem Spiegel und mache mich fertig. Zum Glück muss ich mich mit 16 Jahren noch nicht rasieren, denn sonst würde ich zu spät kommen, denke ich, während ich auf meine Uhr gucke. Schon 7:00 Uhr. Oh nein, ich muss los. Stulle, Wasser, Apfel in die Tasche und ab in den Keller.
Was ich dort sehe, treibt mir Schweißperlen auf die Stirn. Gestern war noch alles in Ordnung. Ausgerechnet am ersten Tag meiner Ausbildung werde ich zu spät kommen. Ein toller Start für den Jungen aus dem Osten. Nein, eine Lösung muss her. Mit einem Platten Reifen ist es unmöglich, in 20 Minuten 3 Kilometer zu fahren oder zu laufen. Die Luftpumpe vom Nachbarfahrrad kannste auch vergessen. Der Reifen macht keine Anstalten, irgendwie fest zu werden. Joggen? Nee, dann bin ich durchgeschwitzt. Während ich überlege, schaue ich auf das Damenfahrrad der alten Vermieterin. Ist das Diebstahl? Besonders nett wirkte die alte Frau nicht bei der Schlüsselübergabe. Egal, ich habe die Wahl: verärgerte alte Frau oder der Chef mit allen Mitarbeitern, die am ersten Tag alle mit dem Kopf schütteln, während ich durch die Tür komme.
Tasche auf, Stift, Zettel auf den Ledersattel und schreibe: Liebe Frau Hansen, ich habe mir Ihr Fahrrad ausgeliehen. Es war ein Notfall. Ich wollte Sie nicht früh wecken. Entschuldigung, Martin (der neue Mieter).
Quitschend komme ich abgehetzt, aber pünktlich an. Alle Blicke richten sich auf mich. “Guten Morgen, ich bin der Lehrling.”
Zum Feierabend kaufe ich noch für 5 Mark einen Strauß im Blumenladen. Ich klingle gegen 17 Uhr bei der alten Frau und entschuldige mich, dass ich ihr Fahrrad genommen habe. Sie guckt noch böser als gestern. Dann gebe ich ihr den Blumenstrauß. Sie lacht.
Heute, 24 Jahre später, bilde ich mit meinem Team 2 Lehrlinge aus. Wer weiß, was in den Köpfen von Slava und Sophie gerade vorgeht. Ich kann euch nur sagen, es wird immer Probleme geben. Es wird unangenehm und schwierig, es wird kalt und heiß, es wird nervig und manchmal werdet ihr denken: Was mache ich hier überhaupt?
Ihr lernt einen Beruf, der euch das ganze Leben prägt. Der euch Sicherheit gibt, der euch selbstbewusst macht, weil ihr die Profis mit dem grünen Daumen seid. Ihr werdet Menschen kennenlernen, die ihr hasst, die ihr liebt, und Menschen, die ihr als Vorbild nehmt. Ihr werdet Freundschaften finden, die vielleicht sogar ein Leben lang halten.
Es liegen 3 Jahre vor euch, voller Herausforderungen, die ihr meistern werdet. Da bin ich mir sicher. Herzlich Willkommen in unserem Team. Wir sind mit Sicherheit genauso aufgeregt wie ihr!